Quo vadis New York City?

In vielen amerikanischen Städten dürfen die Kinder zwar in Restaurants essen, doch nicht in Klassenräumen lernen. Die Wut der Bürger kocht hoch, seit in New York City aufgrund eines erneuten Anstiegs der Coronafälle die Schulen schließen mussten.

Die zweite Coronawelle ist im vollen Gange in den USA. Schon über 250.000 Todesfälle hat die Industrienation zu beklagen. Dies sind doppelt so viele Todesopfer wie US-Soldaten im Ersten Weltkrieg gestorben sind. Insgesamt wurden von mehr als 11 Millionen US-Bürger positiv auf das Coronavirus getestet.

New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio hat deshalb New Yorks Schulen wieder geschlossen. Er versuchte die erneuten Schulschließungen zu erklären und sprach von „Vorsichtsmaßnahmen“.  „Wir müssen die zweite Covid-19-Welle bekämpfen“, betonte er. So waren die Schulen erst im September wiedereröffnet worden. Dabei gehört New York City zu den größten Schulbezirken der Vereinigten Staaten. Über 1,1 Millionen Schüler lernen an 1800 öffentlichen Schulen.

Viele Eltern ließen ihre Kinder jedoch gar nicht wieder in den Präsenzunterricht gehen, sondern ließen sie online teilnehmen. Nur jedes dritte Kind war bis Mitte November überhaupt vor Ort in den Schulen.  Vielen werden die verheerenden Bilder noch in Erinnerung sein, als die Kühllaster die Leichen aus den überlasteten Krankenhäusern abholten. Die zweite Welle trifft New York nicht so stark wie im Frühling, doch die New Yorker sind alarmiert.

Doch die Zahlen sind eindeutig: New York hat den Inzidenzwert von 3 Prozent bei den positiven Tests überschritten. Somit tritt die Verabredung der Stadtverwaltung mit der Lehrergewerkschaft in Kraft, die Schulen wieder zu schließen. Doch wie auch in anderen Staaten der Erde, wirft diese Entscheidung viele Fragen auf. So wird bei Kritikern dieser Entscheidung angeführt, dass die sogenannte Positivitätsrate bei weniger als drei Prozent liegen würde. Zudem läge die Positivitätsrate in New York deutlich niedriger als in vielen anderen Gebieten der USA. Dies ist ein großer Rückschlag für die wirtschaftliche Erholung der Stadt und nährt die Wut der Eltern.

Doch wie riskant sind Schulen eigentlich?

Es gibt keine einheitliche Antwort. Bislang deutet der Großteil der Studien darauf hin, dass Schulen, insbesondere für jüngere Kinder die Übertragung des Coronavirus nicht fördere. „Je mehr Daten ich sehe, desto eher denke ich, dass die Kinder, vor allem im schulischen Umfeld, die Übertragung des Coronavirus gar nicht antreiben“, sagte Brooke Nichols, Forscherin für Infektionskrankheiten an der Boston University School of Public Health.

Aber viele der Erkenntnisse über das Risiko des Präsenzunterrichts sind fehlerhaft und die Forschung nicht schlüssig, vor allem wenn es um Schüler der Mittel- und Oberstufe geht. In Ermangelung eines Konsenses erklärten die Experten im September, dass sie sich in einem Punkt einig seien: Schulen sollten nur dann wiedereröffnet werden, wenn weniger als 5 Prozent der Bürger positiv getestete Coronafälle sind.

In den USA sind die Schwellenwerte für Infektionsraten recht willkürlich aufgestellt, da meist nicht genug getestet wird, um auch asymptomatische Menschen zu erfassen. Damit wird ein verzerrtes Bild der Infektionsraten erstellt.

Aber soweit bekannt ist, „ist der Faktor Nr. 1, wie die Situation vor Ort aussieht“, sagte Helen Jenkins, Expertin für Infektionskrankheiten und Statistik an der Universität Boston. „Wenn Sie sich in einem wirklich schwer betroffenen Teil des Landes befinden, ist es sehr wahrscheinlich, dass jemand, der in die Schule geht, sich irgendwann infiziert“, sagte Helen Jenkins. Es gibt viele Möglichkeiten, wie die Sicherheit der Schulen garantiert werden könnte: Eine Verkleinerung der Klassengrößen, eine Staffelung der Unterrichtszeiten und die Einführung einer Maskenpflicht wären ebenso hilfreich wie die Verlegung einiger Klassen in größere Räume wie Auditorien, Bibliotheken oder leerstehende Gebäude.

Viele Experten kritisieren die erneuten Schulschließungen und rechnen vor, dass sich diese Entscheidung aus epidemiologischer Sicht nicht nachvollziehen lässt. Praktisch alle sozialen Aktivitäten während einer Pandemie dieses Ausmaßes sind mit Risiken verbunden, und die Entscheidung, welche eingeschränkt werden müssen, erfordert eine Abwägung von Nutzen und Schaden einer Einschränkung.

Restaurants, Fitnessstudios und andere Innenräume waren laut einer Studie im November für etwa acht von zehn Neuinfektionen in den USA verantwortlich. „Dies sind die Aktivitäten, die für die überwiegende Mehrheit der Übertragungen verantwortlich sind, und darauf sollten sich unsere ersten Interventionen konzentrieren“, schreibt Aaron E. Carroll in der New York Times. „Da Schulen nicht die Hauptursache für das Problem sind, wird ihre Schließung allein nicht ausreichen, um die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen.“

Einig sind sich die Kritiker in einer Sache alle: die Schließung von Schulen wird großen Schaden anrichten.  Der New-York-Times-Kolumnist Nicholas Kristof erläutert: „Amerikas Bildungssystem überträgt bereits jetzt Vor- und Nachteile von einer Generation auf die nächste: Reiche Kinder besuchen reiche Schulen, die sie vorwärts treiben, und einkommensschwache Kinder besuchen Schulen, die sie benachteiligen“, schreibt er. „Schulschließungen verstärken diese Ungerechtigkeiten, da viele Privatschulen offenbleiben und wohlhabende Eltern besser in der Lage sind, Kindern beim Online-Lernen zu helfen. Unterdessen fallen einkommensschwache Kinder noch weiter zurück“.

Darüber hinaus hat die American Academy of Pediatrics festgestellt, dass die Schule ein wichtiges Instrument gegen Hunger, soziale Isolation, physischen und sexuellen Missbrauch, Drogenkonsum, Depressionen und Selbstmordgedanken ist. Ihre Schließung „setzt Kinder und Jugendliche einem erheblichen Morbiditäts- und in einigen Fällen auch Sterberisiko aus“.

Der entstandene Schaden betrifft nicht nur Kinder. Bei verschiedengeschlechtlichen Paaren fällt die Last unerwarteter familiärer Bedürfnisse tendenziell auf die Frauen. So sind In diesem Herbst sind etwa 1,6 Millionen Mütter weniger erwerbstätig. In vielen Fällen hat die geschlechtsspezifische Teilung der elterlichen Arbeit Frauen nicht nur von ihren Arbeitsplätzen verdrängt, sondern sie auch daran gehindert, neue Arbeit zu suchen. „Andere Länder haben soziale Sicherheitsnetze“, sagte Jessica Calarco, Soziologin an der Universität Indiana, gegenüber der Journalistin Anne Helen Petersen. „Die USA haben Frauen.“